Buchempfehlung Digitalisierung
Skalierung, Exponentialkurven und andere Flüche des Digitalzeitalters
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Skalierung, Exponentialkurven und andere Flüche des Digitalzeitalters
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Skalierung, Exponentialkurven und andere Flüche des Digitalzeitalters
Ich bin kein Digital Native. Ich bin im letzten Jahrhundert geboren, mitten in der ersten Ölkrise, als das Barrel des damals kostbarsten Rohstoffs auf über fünf US-Dollar stieg. Meine Kindheit ist in ein paar vergilbten Aufnahmen im Familienalbum dokumentiert, während ich im ersten Lebensjahr meiner eigenen Kinder zehntausend Fotos in die Cloud gejagt habe. Musik hörte ich als Kind auf Kassette, als Teenager auf Vinyl, als Twen auf CD, in den 30ern auf dem iPod und den 40ern auf Spotify.
Ein Gastbeitrag von Julia Peglow
Ich gehöre einem Jahrgang an, der im ersten Semester des Designstudiums noch mit Rapidograph gezeichnet hat, um im vierten Semester HTML zu coden. Während ich studiert habe, gab es auf einmal „das Internet“ und „E-Mail“. Meine erste Adresse in dieser neuen Welt war 100622.2766@compuserve.com.
Ich kenne beide Welten, die analoge und die digitale. Ich bin nicht Generation X, Y oder Z und auch kein Millennial. Ich gehöre durch mein Geburtsjahr der Generation an, die mit einem Bein im analogen und mit dem anderen im digitalen Zeitalter steht. Wir waren die ersten, die sie richtig gesurft sind, die Welle der Digitalisierung. Die einzige Konstante, die uns alle unser Erwachsenen- und Erwerbsleben hindurch begleitet hat, war dabei immer die Veränderung – eine hektische Grundaufgeregtheit, ein Gefühl des Umbruchs, das in der Luft liegt, seit wir denken können. Unser Normalzustand ist der Hype.
Wir haben sie alle am eigenen Leib miterlebt: Drei technologische Revolutionen – der Personal Computer in den 1980er-, das Internet in den 90er- und das Smartphone in den 00er-Jahren. Wir haben zugesehen, wie eine ganze Generation von Jahrgängen auf der Welle des Erfolgs nach oben gespült wurde. Die Super-Unternehmen, über die wir heute reden, sind mehr oder weniger innerhalb eines einzigen Jahrzehnts aus dem Boden geschossen: Google, Amazon, Meta, Spotify, Airbnb, Uber, Tesla. Ein Jahrzehnt, in dem tatsächlich ganze Industrien über Nacht durch technologische Lösungen hinweggefegt wurden – einen Algorithmus oder eine App.
Ohne, dass wir uns dessen so richtig bewusst wurden, wurde unsere Welt innerhalb weniger Jahre von neuen, kristallinen Strukturen durchzogen: unsere alten, physischen Werkzeuge wie Filofax, Briefpapier und Tagebücher wurden durch digitale Tools ersetzt, das Wissen auf alten Karteikarten in Datenbankstrukturen der virtuellen Welt einsortiert, und menschliche Handlungen in Algorithmen abgebildet. Das Öl als wertvollster Rohstoff wurde innerhalb einer Dekade von einem neuen, flüssigen, manchmal leakenden Stoff abgelöst: Daten.
Der Zweck vieler Digital-Geschäftsmodelle, die im letzten Jahrzehnt entstanden sind, ist deshalb vor allem auf die Maximierung der Datenernte ausgerichtet. Die schwindende Bedeutung der alten Welt gegenüber diesen Digitalunternehmen spiegelt sich in den Firmenbewertungen wider: Airbnb, eine reine Online-Vermittlung für Unterkünfte, ist mit dreißig Milliarden US-Dollar geschätzt mehr wert als Hilton, das mit fünftausend Hotels weltweit größte Hospitality-Unternehmen an der Börse. Der Online-Fahrtenvermittler Uber ist mit sechzig Milliarden US-Dollar höher bewertet als die beiden größten amerikanischen Autobauer, Ford und General Motors, zusammen. Der Wert eines Unternehmens besteht nicht mehr in den physischen Assets – Werkhallen, Produktionsstätten, Fabriken, Niederlassungen, Häuser, Mitarbeiter und produzierte Stückzahlen. Sondern darin, über wie viel Intelligenz es verfügt: Userdaten zu sammeln und diese zu verwerten. Ein Algorithmus oder eine App können eben exponentiell skalieren.
Darin liegt aber eben auch der Fluch unserer Generation: Jede Idee, die wir heute haben, muss im Digitalzeitalter sofort exponentiell skalieren! Das Pflänzchen unserer kleinen, feinen Idee müssen wir sofort als Businessplan aus dem Boden stampfen und innerhalb kürzester Zeit, von null auf hundert, „on a global scale“ hieven, mit allen Mitteln, einem PR-Hype, tonnenweise Venture Capital und unmenschlicher Geschwindigkeit – wenn wir Impact haben wollen. „Das skaliert nicht“, ist zu einem geflügelten Wort in der geschäftlichen Welt geworden – es kommt einem Todesurteil gleich. Die exponentielle Skalierungskurve ist der Herzinfarkt-Takt des Silicon Valley, der auf uns alle abstrahlt: Er macht es uns so unglaublich schwer, eine Idee organisch wachsen zu lassen.
Aber es gibt neben dem Skalierungs-Fluch eine weitere, eigenartige Entwicklung, die noch viel tiefer geht: Es scheint eine Gesetzmäßigkeit darin zu bestehen, dass Systeme zum Selbstzweck werden – und das gilt gleichermaßen für analog-industrielle oder digitale Strukturen. Je ausdifferenzierter, perfektionierter und feinziselierter sie werden, desto mehr gerät der ursprüngliche, innere Sinn und Zweck des Systems in Vergessenheit. Einfaches Beispiel aus dem Arbeitsalltag: Wir sind mit Tunnelblick so darauf fokussiert, die Termine in unserem digitalen Kalender abzuarbeiten, dass der eigentliche Zweck des Termins in den Hintergrund rückt. Vor lauter Terminen sehen wir oft den „Wald vor lauter Bäumen nicht“ – und wir verlieren unser Ziel aus den Augen: Uns auf das zu konzentrieren, um was es in dem Termin eigentlich geht, was eigentlich zu besprechen gewesen wäre – die Sache an sich.
Wo ich hinschaue, begegnen mir Beispiele für diesen verloren gegangenen, korrodierten Kern: In der Netflix-Doku „Chef’s Table“ sagt ein Gemüselieferant mit Bewunderung über Dan Barber vom berühmten Blue Hill Restaurant in New York City, dieser sei „der erste und einzige“, der ihn nicht gefragt hätte, Ertrag, Haltbarkeit oder Stapelbarkeit seiner Gemüse zu verbessern – sondern den Geschmack. Was für eine Welt haben wir konstruiert, in der wir vor lauter Effizienz und Systemperformance diese innerste Qualität vergessen haben, um die es eigentlich geht? Wo ist der Geschmack, wo die Schönheit geblieben? Warum haben wir vergessen, dass es um die Sache an sich geht?
Meine Generation, die wir – aus westdeutscher Sicht – noch in einer überschaubaren Welt mit Zwanzig-Uhr-Tagesschau, Löwenzahn mit Peter Lustig, einem Konto bei der Sparkasse und der Süddeutschen Zeitung auf dem elterlichen Wohnzimmertisch groß geworden sind, eint ein seltsam zerrissenes Grundgefühl: dass die Welt und alle dazugehörigen Gesetze der Schwerkraft, mit denen wir aufgewachsen sind, sich aufzulösen scheinen; und wir uns bei aller Verwirrung und Angst trotzdem darüber freuen – weil es ein Neuanfang ist, der die alte Piefigkeit des letzten Jahrhunderts hinwegfegt.
Aber gerade in unserer Zeit ist es so wichtig, sich diese großen Entwicklungen – den Skalierungs-Zwang oder den Selbstzweck der Systeme – vor Augen zu führen, so schwer es auch fällt, in der Kleinteiligkeit des Alltags und des Tagesgeschäfts. Und dagegen zu halten! Wir müssen der digitalen Welt mit einer anderen Haltung gegenübertreten. Nicht nur mehr reagieren, sondern agieren. Es braucht Visionär:innen und Idealist:innen, denen es nicht darum geht, optimal im System zu performen. Sondern denen es um die Sache an sich geht! Wenn wir die Chance nutzen, dann muss unsere Zeit kein Höllenritt auf der Exponentialkurve der digitalen Transformation sein – wer will das schon? Vielleicht ist unsere Zeit ja gar keine lineare Achse in die unausweichliche, technoide Zukunft – sondern eine aufregende Zeit, in der so vieles die Chance hat, sich zu verändern.